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Passagiergut

Passagiergut von Ulrich Knellwolf

Die Bahn ist mein Arbeitsgebiet, man könnte auch sagen meine Tarnung. Meine Arbeitsinstrumente sind ein GA erster Klasse und ein grosser, weicher, leichter Koffer. Der Koffer ist am Anfang des Unternehmens leer. Dazu kommen ein Regenmantel, ein Hut, eine Zeitung des Tages und mein Handy, mehr nicht.
Irgendwo steige ich in einen Zug ein. Es soll ein grösserer Bahnhof sein und ein nur locker besetzter Schnellzug. Weitere Bedingung ist, dass der Zug einen Speisewagen, zumindest einen Bistrowagen, hat. Ich steige aber nicht in den Speisewagen ein, sondern in den am weitesten davon entfernten Erstklasswagen. Dort hänge ich meinen Mantel auf und lege den Hut und den Koffer auf die Gepäckablage. Ich setze mich nicht, sondern mache mich unter Mitnahme meiner Mappe, für jeden allfälligen Beobachter klar, auf den Weg zum Speisewagen. Unterwegs halte ich Ausschau. Günstig sind Touristinnen. Nicht in zu engen Jeans steckende Rucksackmädchen, sondern elegante Damen mit einem Markenkoffer und einer Krokotasche. Sehe ich sowas, setze ich mich ihr gegenüber. Und dann kommt es darauf an, sie innert nützlicher Frist in ein Gespräch zu verwickeln. Dazu gibt es verschiedene Tricks. Es wird niemand von mir erwarten, dass ich sie hier ausbreite; sie sind Teil meines Berufsgeheimnisses. Wenn man's richtig macht, gelingt es fast immer. Viele Alleinreisende sind froh, einen angenehmen Gesprächspartner zu treffen. Man vernimmt auf so einer Fahrt oft die intimsten Dinge von wildfremden Leuten. Meine Absicht aber ist von Anfang an, den Gegenstand meiner Erwählung rechtzeitig in den Speisewagen zu locken. Dazu und für das Folgende sollte man einigermassen den Fahrplan im Kopf haben.

Sagen wir also, ich nehme den Schnellzug nach Genf, Zürich HB ab 11:34. Der hat zwar leider keinen Speise-, jedoch immerhin einen Bistrowagen. Dort muss ich mit meiner Begleitung spätestens in Bern sitzen. Auch das ist weniger schwer als Nichtfachleute annehmen. Wir bestellen und trinken schon etwas. Kurz vor Fribourg bitte ich um Verständnis, dass ich sie für einen Augenblick allein lasse, da ich schnell telefonieren muss, und ziehe im Aufstehen mein Handy aus der Tasche. Ich eile durch die Wagen zurück, behändige im Vorbeigehen den Koffer meiner Begleitung, packe ihn in meinen eigenen, ziehe den Regenmantel an, schlage den Kragen hoch, setzte den Hut auf und steige in Fribourg aus. Es ist, fahrplanmässig, 13:08. 13:09 fährt der Zug weiter. Und 13:16 geht der nächste Zug von Fribourg zurück nach Zürich. Den nehme ich, steige aber in Bern aus und gebe da meinen schwerer gewordenen Koffer als Passagiergut auf. Natürlich nicht nach Zürich, das könnte mich verraten, sondern zum Beispiel nach Basel oder St. Gallen oder Chur. Dort hole ich spätestens am Tag darauf meinen getreuen Koffer ab, fahre heim, und es kann an die Auswertung der Beute gehen. Wenn man die richtigen Leute an der Hand hat, werfen solche Kofferinhalte recht viel ab. Ich lebe nicht schlecht davon. Am lukrativsten ist natürlich Schmuck. Erstaunlich, was bessere Damen alles in ihren Koffer packen. Pelze sind auch nicht schlecht. Bargeld hingegen findet man seltener. Einmal jedoch lagen zwischen Strümpfen und Unterwäsche einer italienischen Gräfin, mit der ich von Chiasso nach Zürich fuhr (wobei ich natürlich in Zug ausstieg), nicht weniger als zweihunderttausend Euro, in bar, in einem Schalenkoffer, dem man das nicht zugetraut hätte. Die Dame wagte nicht, ihn in den Speisewagen mitzunehmen, aus Angst, es falle auf.

Die grösste Beute machte ich letzte Woche. Und seither habe ich ein Problem. Es handelte sich um den grossen, feudalen Trolley einer sehr eleganten, stark geschminkten, äusserst attraktiven Dame in dem eben erwähnten Zug von Zürich nach Genf. Primär das Gepäckstück und sekundär die Besitzerin stachen mir schon auf dem Perron in Zürich in die Augen. Alles lief wie am Schnürchen. Auf der Höhe von Burgdorf sassen wir bereits im Bistrowagen, in Fribourg setzte ich mich auf die geschilderte Weise ab. Die Geschichte hatte bloss einen Haken, den ich aber nicht weiter schlimm fand. Mein Koffer war für den Trolley der Dame zu klein. Also liess ich den bewährten Begleiter an seinem Platz liegen und nahm nur den Regenmantel und den Hut mit. Da ich fürchtete, es könnte eine Suchaktion eingeleitet werden, wenn meine Reisebekanntschaft den Verlust zu schnell entdeckte, gab ich den Trolley gleich in Fribourg als Passagiergut nach Basel auf. Noch am selben Abend bekam ich ihn in Basel kurz vor Schalterschluss ausgehändigt, ohne jegliche Schwierigkeiten.

Die begannen erst zu Hause, als ich den Trolley öffnete. Eigentlich hätte ich über den Inhalt aufs Höchste erfreut sein können. In Tücher eingeschlagen lag da Schmuck, ich schätzte für mindestens eine halbe Million Franken. Ich wusste sofort, woher die Ware stammte. Aus dem Überfall auf einen Luzerner Juwelier von voriger Woche. Dabei war nicht nur das Geschäft geplündert, sondern auch der Besitzer entführt worden. Obwohl die Angehörigen ein Lösegeld bezahlten, war der Mann noch nicht wieder aufgetaucht. Das würde er auch nicht mehr, dafür lag der Beweis vor mir. Denn neben dem Haufen Klunkern enthielt der Trolley einen grossen Plastiksack voll Kleider. Blutverschmierte Kleider.

Mein Schreck war gewaltig, wie man sich vorstellen kann. Ich fragte mich gerade, wie ich die belastenden Textilien am unauffälligsten verschwinden lassen könne, als das Telefon läutete. Eine Männerstimme, die ich nicht kannte. "Haben Sie sie?" Ich spielte den Ahnungslosen. Ohne ein weiteres Wort wurde aufgelegt. Die halbe Nacht wartete ich zitternd auf einen neuen Anruf; es kam keiner. Ich begann mich schon zu beruhigen, als es um acht Uhr wieder klingelte. "Hier Bahnhof Tiefenbrunnen. Guten Tag. Sie baten, angerufen zu werden, wenn Ihr Koffer eingetroffen sei. Er ist hier." Ich hatte nicht angerufen und erwartete auch kein Gepäck.

Im Bahnhof Tiefenbrunnen gebe ich mein Passagiergut auf, wenn ich nicht beruflich verreise, sondern in die Ferien fahre. Sie sind da sehr dienstbereit und beinahe familiär. "Komme gleich", sagte ich, um keinen Argwohn zu wecken. Im Hinausgehen schaute ich ahnungsvoll in den Briefkasten. Da lag ein Umschlag, und darin ein Schein, Passagiergut, aufgegeben in Lausanne, Bestimmungsbahnhof Zürich Tiefenbrunnen.

Es war mein Koffer. Als ich ihn zu Hause öffnete, wäre ich beinahe auf den Rücken gefallen. In dem Koffer lag eine abgetrennte menschliche Hand, und an ihr hing ein Zettel. "Wir hoffen, Sie bieten die Hand zu guter Kooperation", stand darauf.

Ich wusste noch nicht, was ich tun sollte, als schon wieder das Telefon schellte. Zögernd hob ich den Hörer ab. "Ja, hier ist noch einmal der Bahnhof Tiefenbrunnen", sagte die freundliche Beamtenstimme. "Schon wieder ein Koffer für Sie angekommen. Wenn ich Sie nicht als Kunden kennte, käm's mir fast unheimlich vor."

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